Huayna Potosí – 6088m

Eine Warnung vorab: hier gibt es ungewöhnlich viel Text! Der Anstrengung der hier beschriebenen Tour geschuldet konnten wir die Erfahrung nicht in Photos festhalten, sondern lediglich versuchen sie in Worten zu beschreiben. (Im Zweifel einfach durch die Photos klicken… ein, zwei gute sind schon dabei. : )

Über La Paz und vor allem von El Alto aus gut sichtbar ragen der Illimani (6493m) und der Huayna Potosí (6088m). Die beiden Berge sind zwei der insgesamt sieben Sechstausender der Cordillera Real, die sich 125km lang bis zum Titicacasee erstreckt . Wir entschließen uns zu einem Abenteuer: der Huayna Potosí lässt sich ohne große technische Vorkenntnisse besteigen. In La Paz buchen wir eine dreitägige Tour inkl. Bergführer und Gletscherausrüstung.

Tag 1: wir fahren von La Paz mit Proviantstopp am Mercado in El Alto zum Base Camp auf ca. 4700m. Von dort geht es am Nachmittag zum Gletschertraining! In voller Montur steigen wir auf zum Anfang des Gletschers. Hier lernen wir das Verhalten auf Schnee und Eis, insbesondere das Gehen mit Eisaxt und Steigeisen. (Gletscherspaltenbergung üben wir nicht; die Spalten auf dem Aufstiegsweg sind vergleichsweise klein und es befinden sich genügend andere Bergführer auf der Strecke.) Anschließend dürfen wir uns noch an einer 90° Kletterei versuchen. Beim tatsächlichen Aufstieg wird es nicht so steil sein.

Wir steigen wieder ab zum Base Camp. Nach dem Abendessen (einfach, aber wie bestellt vegetarisch) halten wir uns noch bis etwa 22:00 Uhr wach und gehen schließlich ins Bett. Die Nächte sind hier oben mitunter kritisch. Die Atmung lässt sich nicht bewusst kontrollieren und die Höhenluft kann zum schleichenden oder plötzlichen Einsetzen der Höhenkrankheit führen. Wir befinden uns bereits seit 22 Tagen auf über 2000m (in Potosí sogar auf über 4000m) und in La Paz auf ca. 3650m. Die Nacht im Base Camp verläuft ohne Probleme.

Tag 2: wir steigen um 9 Uhr vom Base Camp zum High Camp auf knapp über 5100m auf. Lediglich zwei Stunden dauert der Aufstieg, doch wir transportieren unsere gesamte Ausrüstung und auf dieser Höhe schmerzt jedes halbe Kilogramm. Die Luft wird dünn, jeder zu schnelle Schritt erfordert einen Stopp.

Den Rest des Tages entspannen wir im High Camp. Fast etwas langweilig ist es, aber der Tag dient vor allem zur weiteren Akklimatisierung. Wir lernen die anderen Gipfelaspiranten kennen und trinken viel Koka-Tee, der nach fester Überzeugung der Bolivianer die Effekte der Höhe mindert.

Am zweiten Tag geht es um 19:00 Uhr früh zu Bett. Der nächste Tag wird herausfordernd.

Tag 3: der vom Bergführer vorgegebene Zeitplan ist straff: 0:00 Uhr aufstehen, bis 0:30 Uhr Ausrüstung anlegen und Rucksack (Tee, Schokolade, Snacks, Kamera) packen. Um 1:00 Uhr ist Aufbruch. Der Aufstieg dauert je nachdem fünf bis sieben Stunden, der Abstieg zwei bis drei. Wir brechen so früh auf, weil der Gletscher nach Sonnenaufgang mit jeder Stunde mehr Gefahren birgt: der von der Sonne erweichte Schnee würde die steilen Passagen trotz Steigeisen zur Rutschpartie machen, die Wahrscheinlichkeit unerwarteter Gletscherspalten und die Lawinengefahr steigen.

Spoiler Alert: aufgrund des Aufstieges in der Nacht gibt es so gut wie keine Photos vom Aufstieg und selbst die Photos vom Abstieg beschränken sich auf flache Partien, während derer wir gefahrlos photographieren konnten.

Etwas surreal ist das ganze Unterfangen schon. Mit dem Aufstieg bei Dunkelheit fehlt uns jede Orientierung. Wir gehen zu dritt – Bergführer Marmerto, Steffi und ich – dazwischen jeweils ca. fünf Meter Seil. Der Blick nach vorne enthüllt genau den Lichtkegel der Stirnlampe. Drei Meter Schnee, darum herum tiefschwarzes Nichts. Der Boden knirscht, die Nase friert, aber am meisten beschäftigt uns der Sauerstoffmangel. Zehn Schritte ohne Probleme, dann ein Räuspern, ein Schlucken oder ein Husten und plötzlich ist der Rhythmus weg, kein Sauerstoff mehr, wir müssen stehen bleiben. Fünf Schritte, Pause. Dreißig Schritte, Pause. Zehn Schritte, Pause. Sechzig Schritte, Pause. So kämpfen wir stetig gegen die Höhe an. Steffi hat von Anfang an Probleme mit der Atmung.

Wir halten erschöpft an einer flachen Stelle. Der Guide mahnt zum Weitergehen. Lawinengefahr. Etwas unerwartet gelangen wir an eine Kletterstelle. Mit Steigeisen und Eisaxt klettern wir zu dritt mit bis zu 70° Steigung ca. 20m nach oben. Mitten in der Kletterstelle geht laut tosend neben uns eine Lawine ab. (Bei Tageslicht konnte man später sehen, dass in einiger Entfernung lediglich ein wenig Schnee abgegangen war.) Die Hand an der Eisaxt zittert. Fokus auf’s Weiterkommen: Fuß, Fuß, Axt, Fuß, Fuß, Axt.

Wir arbeiten uns weiter voran. Steffi bekommt immer mehr Probleme mit der Luft. Auf ausgesetzte Passagen folgen flache Passagen folgen steile Passagen. 5600 Meter. Es bläst ein eisiger Wind. 5700 Meter. Immer mehr lange Pausen. Die Worte des Expeditionsleiters am ersten Tag: “Bei der dreitägigen Tour erreichen im Schnitt 80% den Gipfel. 20% müssen aufgrund von Höhenkrankheit umkehren.” Als bei Steffi Schwindel einsetzt ist klar, dass sie heute zu den 20% gehört. Mit schwindender Trittsicherheit wird auch der Abstieg noch zur Herausforderung werden. Auf 5800m muss Steffi umkehren. Ich kann mich einer uns überholenden Zweierseilschaft unserer Agentur anschließen. Steffi steigt mit unserem Bergführer ab. (Der Abstieg über die Schlüsselstelle passiert ohne große Probleme, aber später im Camp verschlechtert sich Steffis Sehfähigkeit – die Höhenkrankheit ist in vollem Gange.)

Der weitere Aufstieg – jetzt mit Viktor und Bergführer Juan – hat es noch in sich. Glücklicherweise ist Viktor einen Schritt langsamer als ich. An einer steilen, ausgesetzten Felspassage kommen mir letzte Zweifel. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr. Zu nah ist der Gipfel. Zu viel hatte ich bereits gelitten. Die letzten Höhenmeter sind sehr steil, unglaublich hart und ebenso unwirklich. Viktor erlaubt mir Verschnaufpausen. Der Gipfel selbst schließlich ist eng (vielleicht zwei auf zwei Meter), steil, gefährlich und wunderschön. Tränen fließen, Juan schießt ein Photo und wir steigen ab.